kindlichen
(präoperationalen) Denken eine hohe Dauer abgeleitet. Dem Kind ist die umgekehrt
proportionale Beziehung von Tempo und Zeitverbrauch (Dauer) noch nicht klar. Diese
Tatsache ist für den musikalischen Zusammenhang bedeutsam: Wie weiter unten gezeigt
werden wird, spielt gerade das Phänomen reziproker Rationalität eine wichtige Rolle im
Umgang mit den tradierten Notenwerten.
➢ | Zeitbeurteilung im anschaulichen (präoperationalen) Denken bedeutet | |
| &mdash Gleichsetzung von Tempo und Zeit/Dauer (schnell = viel Zeit), | |
| &mdash Gleichsetzung von Größe und Zeit/Alter (groß = alt), | |
| &mdash fehlendes Verständnis für die umgekehrt proportionale Beziehung von Tempo
und Dauer. | |
Dauer, Reihenfolge und Zeitpunkte als objektive Kriterien von Zeit
Die Ebene der vollen, ›erwachsenen‹ Zeitverarbeitung ist dann erreicht, wenn ein
Verständnis für die unveränderlich gleichmäßig ablaufende Zeit – die objektive Zeit
sozusagen – existiert. Diese Distanz zum subjektiven Erleben der Dauern kann auch als
Dezentrierung bezeichnet werden (vgl. Piaget 1955, S. 70): ein objektives, mit der
Uhr abgemessenes Zeitintervall bleibt von den darin geschehenden Ereignissen
unberührt.
Das reife Verständnis von Zeit ist nach Piaget noch durch andere Merkmale
charakterisiert. Unter dem Begriff Synchronismus versteht Piaget das Verständnis
für die Identität von Zeit trotz unterschiedlicher Bewegungen. Bewegt sich
beispielsweise eine Figur A genau so lange wie Figur B, allerdings schneller oder
langsamer als diese, ist für Kinder in einem frühen Entwicklungsstadium noch lange
nicht klar, dass sich beide Figuren trotzdem gleich lange bewegten. Erst in der
kognitiven Weiterentwicklung entsteht die Erkenntnis, dass die Dauer vom Tempo
unberührt, also objektiv gleich bleibt. Auch die Klarheit über das Verhältnis
von Teildauer zur Gesamtdauer entsteht erst allmählich. Mit dem Begriff der
›Einschachtelung‹ meint Piaget einerseits Dauern bzw. Intervalle, die durch Start und
Stopp begrenzt sind, andererseits das Verhältnis von Teildauern zur Gesamtdauer. Der
Begriff Isochronismus kennzeichnet den Sachverhalt, dass identische Dauern auch
wenn sie sukzessiv ablaufen als identisch erkannt werden (wenn beispielsweise
die Zeitdauern verglichen werden sollen, in denen Gefäße nacheinander gefüllt
werden).
➢ | Zeitbeurteilung im formal-operationalen Denken bedeutet Wissen um die Existenz der
›objektiven‹ Zeit unabhängig | |
| &mdash vom wahrgenommenen Tempo | |
| &mdash von der ›Position‹ eines Zeitintervalls. | |
Für das ›erwachsene‹ Verständnis von Zeit bedarf es schließlich auch der Integration der
verschiedenen Merkmale wie Start (und Stopp), Dauer und Reihenfolge. Bei
Start und Stopp handelt es sich um Zeitpunkte. In der Phonologie oder der
Wahrnehmungspsychologie ist der Begriff ›onset‹ gebräuchlich, um den Startpunkt einer
Lautäußerung von seinem Fortgang zu differenzieren; Jeanne Bamberger (1980) spricht
im Zusammenhang mit Klatschrhythmen von der »attack time« (ebd., S. 175). Diese
sprachlichen Bemühungen spiegeln die Komplexität der zeitlichen Vorgänge: Punkte
begrenzen Dauern – und bestimmen dadurch eine Reihenfolge. Piaget drückt diesen
Sachverhalt so aus: