4.4. Vom Reflex zur Virtuosität: die Bedeutung von Rhythmen in der motorischen EntwicklungDer Körper ist in der Musikausübung nicht nur Träger und Mittelpunkt der Sinneswahrnehmungen, er ist ebenso ausführendes Organ von Spielbewegungen und vokalem Geschehen. Als Merkmal von Bewegung wird neben Koordination, Flexibilität, Geschwindigkeit, Kraft und Ausdauer ausdrücklich auch der Rhythmus genannt (vgl. Arbinger 1979, S. 43). Die aufgezählten Bewegungsqualitäten stehen nun nicht von Lebensbeginn an zur Verfügung, sondern entwickeln sich erst allmählich, motorische Fertigkeiten unterliegen in der Zeit des Heranwachsens Reifungsprozessen. Gleichwohl setzt die musikpädagogische Arbeit mittlerweile schon im Säuglingsalter ein (vgl. Seeliger 2003). Je jünger die Zielgruppe eines Unterrichts ist, umso mehr gilt es also zu berücksichtigen, dass sich die Körperbeherrschung in den ersten Lebensjahren erst sehr allmählich entwickelt. Gleichzeitig gilt in der Arbeit mit Erwachsenen, dass die Reihenfolge der Lernschritte sich am geschicktesten in einer engen Anknüpfung an die grundsätzlichen Entwicklungsprinzipien gestaltet. In der Unterrichtspraxis kann es sowohl mit Kindern als auch Erwachsenen vorkommen, dass ein vermeintlich rhythmisches Problem in Wirklichkeit durch motorische Defizite verursacht wird. Um einen methodischen Weg zur Problemlösung zu entwickeln, ist es notwendig, die Grundsätze der motorischen Entwicklung zu kennen. Diese sollen im Folgenden dargestellt werden.
4.4.1. Entwicklungsprinzipien
Rhythmus als früh angelegtes BewegungsprinzipDas menschliche Neugeborene ist mit einer Reihe von angeborenen Verhaltensmustern ausgestattet. Am deutlichsten rhythmisch geprägt ist dabei das Saugen. Dieses Reflexverhalten ist so aussagekräftig, dass in der Säuglingsforschung die Saugfrequenz bzw. deren Veränderung als Indikator für Wechsel im Aufmerksamkeitsstatus genutzt wird (vgl. Abschnitt 5.1.2). Aber auch das Schreien kann als rhythmisch geprägt aufgefasst werden, kann sich durch regelmäßige Muster auszeichnen oder durch die Ankopplung an den Atemrhythmus strukturiert sein (vgl. Abschnitt 5.1.3). Ein besonderes Kennzeichen von Säuglingsbewegungen sind lebhafte Aktivitäten der Extremitäten wie Auf- und Ab-Schlagen der Arme, Winkbewegungen oder Tretbewegungen mit den Beinen. Diese Bewegungen sind durch eine regelmäßige Wiederkehr gekennzeichnet, also ebenfalls rhythmisch. Zu bedenken ist, dass die Aktivitäten des Säuglings in den ersten Lebensmonaten überwiegend vom Stammhirn gesteuert werden, erst allmählich beginnt eine willkürliche, von der Hirnrinde gesteuerte Einflussnahme auf das Bewegungsverhalten und ermöglicht gezielte Bewegung. Die entwicklungsgeschichtlich früh einzuordnenden Hirnteile sind dagegen von Lebensbeginn an schon voll entwickelt. In diesen archaischeren Regionen sind die beschriebenen rhythmischen Bewegungen sozusagen programmiert. Rhythmische Bewegungen finden in der Entwicklung also ausgesprochen früh statt und sind noch vor Erreichen der Bewusstseinsebene angelegt.
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