Übergang in das Langzeitgedächtnis (vgl. Abschnitt 5.4.3). Im Falle von
Sprachbeeinträchtigung (Dysphasie, Dysgrammatismus, vgl. Abschnitt 5.4.2) wird
vermutet, dass die Verarbeitung des Sprachmaterials (mit seiner prosodischen
Charakteristik) im Arbeitsgedächtnis gestört ist. Unabhängig von dieser These gilt, dass
das Arbeitsgedächtnis in seiner Funktionsfähigkeit genetisch determiniert ist
(vgl. Abschnitt 5.4.3). Damit wäre die Fähigkeit zur Reizverarbeitung wenigstens in
Teilen verbindlich vorgegeben und nur im Rahmen der individuellen ›Ausstattung‹
durch Training zu verbessern. Die Annahme verschiedener Gedächtnisqualitäten
unterstützt die Alltagsbeobachtung, dass Fertigkeiten in Bezug auf rhythmische
Souveränität interindividuell unterschiedlich ausgeprägt sind.
Ein anderer Aspekt betrifft die Reifungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses: es ist davon auszugehen, dass Kinder nicht die gleichen Fähigkeiten haben, auditiven oder visuellen Input zu verarbeiten wie Erwachsene, diese entwickeln sich aber bis in das Jugendalter hinein weiter. Ohne Kinder vorschnell als ›unrhythmisch, also unbegabt‹ abzuqualifizieren, kann das Wissen um die Hintergründe zu einer entspannteren Grundhaltung verhelfen. Nach wie vor bleibt den Lehrkräften die Verpflichtung zu einer sorgfältigen, entwicklungspsychologisch und anthropologisch abgesicherten Gestaltung der Lernwege. Dennoch sorgt die Akzeptanz von (zunächst) unveränderlichen Gegebenheiten und das Wissen um das biologische Reifungspotenzial auch für eine Entlastung aller Beteiligten.
8.4. Zeit- und Rhythmusverarbeitung: musikpädagogisches Handeln im Spiegel wahrnehmungspsychologischer ErkenntnisseDie zeitliche Anpassung an verschiedene Gegebenheiten – wie beispielsweise den Tag-Nacht-Rhythmus – ist ein überlebenssicherndes biologisches Prinzip. Über die in Kapitel 4 dargestellte physiologische Komponente hinaus ist zeitliche Steuerung (mit Hilfe geistiger Reflektion) wichtiger Bestandteil menschlichen Verhaltens. Davon sind sowohl das Erleben als auch das Handeln betroffen. Auf der Erlebnisebene ermöglicht die Fähigkeit der Zeitwahrnehmung überhaupt erst, Musik als das wahrzunehmen, was sie ist: eine besondere klangliche Erscheinung mit bestimmten Dauern. Auf der Handlungsebene versetzt die Fähigkeit differenzierter Zeitverarbeitung den Menschen dazu in die Lage, intentional gestaltete Klänge mit bestimmten Dauern zu erzeugen – also Musik zu machen. Die Sichtweise von musikalisch-zeitlicher Verständnis- und Ausdrucksmöglichkeit als artifizieller Spezialfähigkeit darf allerdings nicht darüber hinwegsehen lassen, dass das (mehr oder weniger bewusste) Umgehen mit Zeit und Rhythmus evolutionsgeschichtlich früh in der biologischen Existenz verankert ist.
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