andere Bereiche der Kunst betreffenden Lebensgefühls (vgl. Kapitel 2).
Mit einer Veränderung eben dieses Lebensgefühls wandelt sich wiederum auch
die inhaltliche Inanspruchnahme der Rhythmus-Thematik wie im Folgenden
beschrieben.
Rhythmus im 19. Jahrhundert: fluktual oder numeral?Im fortschreitenden 19. Jahrhundert entstehen Tendenzen, den Zwang des streng geregelten rhythmischen Verlaufs wieder zu lockern. In »Das Kunstwerk der Zukunft« (veröffentlicht 1850) setzt Richard Wagner die Bedeutung des strengen, gleichförmigen Rhythmus herab, indem er ihn in den Bereich des Tanzes verweist. Er beschreibt den Dualismus von fluktualen und numeralen Prozessen in der Musik, zu ersteren zählt er Ton, Melodie und Harmonie, zu den letzteren den Rhythmus (Seidel 1993, S. 29). In der Frage, wie sich die Dynamik der Melodie zum Rhythmus des Taktes verhält oder verhalten soll, scheiden sich im 19. Jh. die Geister. Klassizistisch Gesonnene fordern und praktizieren den Ausgleich, Fortschrittsgläubige setzen auf die Freiheit der Melodie. An genau dieser Streitfrage, wie sich Melodien bzw. Motive im Geflecht von Rhythmus, Metrum und Takt zu gestalten haben erhitzen sich die Gemüter der Epoche. Dabei findet die Diskussion unter Zugrundelegung historischer Kompositionen statt, nicht mehr, wie im 18. Jahrhundert anhand eigener Kompositionen (vgl. Henneberg 1974, S. 33). Mit welchen extremen Wertungen der Richtungsstreit im 19. Jahrhundert einhergeht, mag die Meinung Moritz Hauptmanns (1792 – 1868) illustrieren: BEETHOVEN bereits gebe den Ausgleich zwischen Metrum und Rhythmus auf, den die klassische Musik herzustellen wußte. Das fluktuale Moment verselbständige sich, setze sich über das numerale hinweg. Die Musik werde weichlich, weinerlich breiig, haltlos, letztlich ahuman, sittenwidrig. Sie gebe sich den momentanen Freuden und Leiden blindlings hin, anstatt sie so zu fassen, wie das dem seiner selbst bewußten Menschen angemessen sei: habituell, ideal, metrisch also. (zit. nach Seidel 1976, S. 97). Für das Gebiet der Terminologie sei noch einmal erwähnt, dass bis in das 19. Jahrhundert hinein die Tradition Isaac Vossius (vgl. Abschnitt 3.2.4) nachzuweisen ist, die mit dem Begriff Rhythmus einen ausgewogenen Satzbau verbindet. Genauso kann ein Melodieabschnitt, eine Gestalt oder der Takt selber als Rhythmus bezeichnet werden (vgl. Seidel 1993, S. 26).
3.2.6. Hugo RiemannHugo Riemann (1849–1919) setzt sich mit dem Verhältnis von Mensch und Rhythmus zunächst sehr grundsätzlich auseinander. So schildert er das zentrale Phänomen des Bedürfnisses nach Zusammenfassung mehrerer gleicher Ereignisse zu Gruppen oder stellt die Frage nach einer Grundkonstante in Musik, Bewegung, Tanz und Sprache. Für letzteres nimmt er ein Mittelmaß bei einem Tempo von |