Zwei Tendenzen in der Geschichte der Zeitmessung sollen an dieser Stelle hervorgehoben
werden. Zum einen zeigt sich in den Dimensionen der Aufmerksamkeit eine Entwicklung
vom Großen zum Kleinen: was mit der Beobachtung der Himmelskörper beginnt, endet
im Blick auf die Bewegung der Elementarteilchen. Was zunächst der Erstellung und
Verbesserung von Kalendern dient, teilt später Tag, Stunde und Minute in immer
kleinere Einheiten. Zweitens ist dieser ›Blick‹ auf die kleinsten Dinge keine anschauliche,
natürliche Sichtweise mehr, sondern eine künstliche, konstruierte, von technischen
Hilfsmitteln abhängige. Die sinnlich-stofflich, also konkret be-greifbare Zeit ist
einer nur mehr kognitiv erfahrbaren gewichen. Wo die Sand- oder Wasseruhr
gedreht oder befüllt, die mechanische Uhr aufgezogen wird, bedürfen Quarz-oder
Atomuhr hochtechnisierter Vorgänge, die von jeglicher Handarbeit entfremdet
sind.
➢ | Die physikalische Zeitmessung der Moderne ist extrem minimalistisch. Sie ist
abstrakt, nicht mehr anschaulich-konkret. | |
2.2. Kreis, Linie oder Punkt: die Empfindung subjektiver Zeit
Zeitempfinden unter dem Einfluss innerer Einstellungen
Abgesehen von den Möglichkeiten der Zeitmessung zeichnen unterschiedliche Zeitalter
oder Kulturen sich auch durch das Verständnis von Zeit in ihren Lebensgewohnheiten
und Lebensphilosophien aus. So verstehen naturnahe Völker die Zeit als unendlichen
Zyklus, diese Idee des Kreislaufs ist in zahlreichen Mythen belegt (vgl. Gendolla 1992,
S. 9ff.).
Die christliche Kultur dagegen löst das mythische Denken vom Zyklus auf. Erscheinen
und Funktion von Jesus Christus sind einmalig und richtungsweisend, aus diesem
Denken resultiert eine lineare Vorstellung von der Zeit: »Das Leben wird einmalig und
gerichtet, d. h. es läßt sich einrichten, nach Christi Vorbild auf den rechten Weg bringen.
Die Zeit, nur eine Abweichung vom ewigen Sein, muß genutzt werden, um es schließlich
wieder zu erreichen.« (ebd. S. 34). So gemahnt das streng reglementierte Leben im
mittelalterlichen Kloster zur pünktlichen Befolgung der zeitlichen Vorschriften. Im
Kontrast zur modernen Pünktlichkeit allerdings geht es nicht darum, Uhrzeiten minutiös
einzuhalten: »Der Tagesrhythmus wird im Interesse des gemeinsamen Vollzugs
elastisch gehandhabt. […] die geforderte Pünktlichkeit bezieht sich nicht auf
abstrakte Zeitpunkte, sondern auf Zeitpunkte in der Sequenz des kollektiven
Verhaltensrhythmus.« (Dohrn-van Rossum 1992, S. 42). So kann das mittelalterliche
Klosterleben als Keimzelle für das moderne Zeitbewusstsein gelten. Der Mensch
ist nun nicht mehr bloß Teil der Natur, sondern hat die Möglichkeit, wenn
nicht sogar die Pflicht, aktiv zu handeln. Ziel ist es, die von Gott gegebene Zeit
zu nutzen, um die Erlösung zu erreichen (Sulzgruber 1995, S. 46f.). Wo Zeit
als begrenzt gilt, ist auch der Gedanke an drohende Zeit-Vergeudung nicht
fern, kann Zeitdruck entstehen. Bei humanistischen Autoren des ausgehenden
14. Jahrhunderts finden sich Ratschläge, »mit der eigenen Zeit, verstanden als