muskuläre Aktivitäten eher als Epiphänomen denn als Ursache geistiger Prozesse
anzusehen sind. Dennoch wurden die motorischen Prozesse von ihm betrachtet
als
eine Art von Resonanz, welche die Thätigkeit der Seele zur Verstärkung
der Lebhaftigkeit ihrer Vorstellungen secundär in den materiellen Substraten
hervorruft (Lotze 1852, S. 474).
Anna Wyczoikowska entwickelte 1913 eine Theorie der Übertragung motorischer Prozesse
durch Resonanz. Gemäß dieser wirkt sich jedes ausgesprochene Wort auf das Ohr und die
Zunge eines Zuhörers in ähnlicher Weise aus, wie eine vibrierende Stimmgabel eine andere in
Schwingung versetzt. Ihr zufolge werden das Ohr und die Zunge des Hörers durch den
Sprecher zu sympathetischen Vibrationen angeregt. Nur wenn der von der Stimme der
Person A hervorgebrachte Stimulus mechanisch dieselben koordinierten Bewegungen des
Sprechorgans der Person B anrege, sei diese nach Wyczoikowska in der Lage das gehörte
Wort zu verstehen. Sie ging auch davon aus, dass man ein kommuniziertes Wort erst dann
vollständig verstehen könne, wenn man es mit seinen eigenen Sprechorganen wiederhole.
Diese intraorganischen Prozesse gehen ihrer Theorie nach dem bewussten Verstehen voraus
und erklären ihrer Meinung nach auch, warum Menschen »beim Denken Wörter
hören«.
Die Vorstellung, dass Schallwellen Muskeltonusänderungen oder tatsächliche
Bewegungsreaktionen auslösen können, zieht sich bis in die Gegenwart. Alexander Truslit
(1938) vermutete, dass das Vestibularorgan (Gleichgewichtsorgan) dabei eine vermittelnde
Rolle spielt. Alvin M. Liberman und Ignatius G. Mattingly (1985) gingen davon aus,
dass die vom Sprecher intendierten phonetischen Gesten beim Hörer aufgrund
invarianter motorischer Gehirnprogramme zu entsprechenden Bewegungen seiner
Artikulatoren führen und dadurch das Verständnis des Gehörten ermöglichen.
Neil P. McAngus–Todd beschreibt einen »audio-visuo-motor mechanism«, der bei
Reizung des visuellen oder auditiven Systems Muskelaktivitäten bewirke (1999;
siehe auch McAngus-Todd & Frederick Cody 2000). Auch andere zeitgenössische
Wissenschaftler setzen ein »Perzeptions-Aktions-System« voraus, welches visuelle oder
auditive Sinnesempfindungen auf einen motorischen Effektor überträgt und damit
eine basale Rolle für die Erkennung und das Lernen von Handlungen spielt. Die
Vermittlerrolle wird dabei dem prämotorischen Kortex zugesprochen (Gallese et al. 1996;
Decety & Grèzes 1999; Rizzolati et al. 2000; Fadiga et al. 2002; Koelsch & Fritz
2003).
Kritische Anmerkungen
Walter B. Pillsbury äußerte bereits 1911 eine sehr treffende Kritik rein motorischer
Bewusstseinstheorien:
[…] to say that all functions are to be explained by movements would be
meaningless if function meant nothing more than movement (Pillsbury 1911,
S. 95).
Die Annahme, dass musikalische Klangvorstellungen nur durch Kehlkopfbewegungen
zustande kommen könnten, mutet paradox an. Zur Verteidigung der in diesem Kapitel
vorgestellten Theorien muss jedoch angemerkt werden, dass keine einzige davon kognitive
Leistungen ausschließlich durch motorische Prozesse erklärt. Auch
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