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Seite 4 Seidl, Der Leiermann


grellen Bilde, saß am Eichentische der wohlbekannte Leiermann mit seinem schlafenden Krüppel, vor sich ein Deckelglas mit schillern-dem Wein und dem geschlossenen Orgelkasten. Seitwärts aber in der Fensterhöhlung saßen die beiden Musikanten, der Klarinettist und der Brummbaßspieler und zu ihren Füßen stand eine mattgetanzte Dirne, nachsingend die Melodie des Tanzes. Im Vordergrunde walzten taktlos wohlbekannte Gestalten, die beleibte kugelförmige Wirtin mit dem winddürren Grundwächter und der junge Bursche mit dem strickartigen Halstuch am Arme des Mütterchens, das, um nicht Schwindel zu bekommen, die Augen behaglich geschlossen hatte. Kurzum, die sämtlichen Figuren, die ich im Spielkasten des Leiermannes so oft betrachtet hatte, bewegten sich, als ob sie der Drehorgel entschlüpft und in das Leben zurückgekehrt wären, vor mir; und glaubt' ich damals wirkliche Wesen in der Vogelperspektive zu sehen, so kam es mir jetzt vor, als ob sich die Gestalten eines grandiösen Orgelkastens vor meinen Augen umhertummelten. Lange stand ich wie angewurzelt, nie empfand ich das Wunderbare, Mystische des Lebens so lebhaft, nie, kann ich sagen, hatte ich ein Märchen so ganz selber durchlebt. Da schlug vom nahen Turme der Pfarr-kirche ein mächtiger Hammerstreich; eins tönte wie ein Geisterruf ins stille Meer der Nacht; ich sprang zurück, zog den Mantel straffer übers Ohr; die Musik war verstummt, und fröstelnd eilt' ich, von Bildern meiner erhitzten Phantasie verfolgt, der Stadt zu.


Als ich am nächsten Nachmittage zufällig über das Wasserglacis schritt und der Leiermann nicht mehr auf seinem gewöhnlichen Platze stand, da rundete sich erst das Märchen, das ich durchlebt hatte, zum Ganzen und ich dachte mir: wie wär' es, wenn jene verwunschene Tanzgesellschaft, wie sie der Leiermann selbst nannte, wirklich das gewesen wäre; wenn er die armen Gestalten in seinen Kasten gebannt hätte; wenn um Mitternacht der Zauber immer aufhörte, die Gesellschaft wieder ins Leben träte, der Kasten sich schlösse, die Figuren, wie eine Uhr ab-schnarrt, sich noch eine Weile forttummelten und beim Schlage eins zur Ruhe legten, um am nächsten Tage ihr gespenstiges Treiben im Orgelkasten gestärkt zu beginnen! Mit der Zeit würden dann die braven Wesen, wie alles abnimmt, abnehmen an Kraft und Beweglichkeit, immer mehr Orgelpfeifchen würden ausbleiben, der Tanz immer langsamer, immer taktloser werden, die Lichter am Holzkreuze würden erlöschen, die Schenke in der abgelegenen Gasse würde aussterben und der Leierkasten für immer sich schließen.


Zwei Jahre nach dieser seltsamen Szene sprach mich ein Mann mit einem Stelzbeine um ein Almosen an. Ich erkannte den alten Leiermaun und fragte ihn: »Ihr bettelt jetzt so? Was macht denn Eure verwunschene Tanzgesellschaft?«


»Sie ist vom Atem gekommen«, antwortete er mit grinsender Miene und humpelte ohne Dank für meine Gabe weiter.


»Sie ist vom Atem gekommen«, antwortete er mit grinsender Miene und humpelte ohne Dank für meine Gabe weiter.



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