7. Zeit- und Rhythmusverarbeitung im Kontext der
Neurophysiologie
Kapitel 6 hatte dargestellt, wie zeitliche Strukturen – Rhythmen – sich in verschiedenen
psychischen Dimensionen abbilden: Die Verarbeitung von Zeit betrifft sowohl bewusste
als auch unbewusste Vorgänge, beinhaltet kognitive sowie emotionale Aspekte und
erstreckt sich neben der Wahrnehmung auch auf die Ausführung zeitgebundener
Handlungen. Da ein großer Teil der Zeitverarbeitung auf kognitiv gestützten Prozessen
basiert, ist die Wahrnehmung durch das Zusammentreffen von Individuum und Situation
bestimmt.
Dem gegenüber stehen die neurophysiologischen Grundlagen des intern konstruierten
Phänomens Zeit. Alle Perzeption und Produktion von Strukturen in der Zeit beruht auf
Vorgängen in Gehirn und Nervensystem. Trotz individueller Ausprägung beruht die
Zeitverarbeitung auf biologisch fest verankerten Gesetzmäßigkeiten. Horst-Peter Hesse
fasst diesen Sachverhalt folgendermaßen zusammen:
So verschieden das Bedingungsgefüge bei den einzelnen Menschen sein
mag, das, was alle Menschen gemeinsam haben, sind die grundlegenden
anatomisch-physiologischen Strukturen und Funktionen des Nervensystems.
Das Psychische ist an spezifische Prozesse im Gehirn gebunden, es
setzt das Vorhandensein, einen angemessenen Entwicklungsgrad und die
Funktionsfähigkeit von neuronalen Strukturen voraus, die im Laufe der
Evolution entstanden und daher langfristig stabil sind (Hesse 2003, S. 8).
Für den musikpädagogischen Zusammenhang geht es darum, methodische Strategien
darauf hin zu überprüfen, ob sie mit neurophysiologischen Gegebenheiten in
Übereinstimmung stehen – oder Strategien zu entwerfen, die auf dem Wissen um die
Funktionsweise von Gehirn und Nervensystem basieren.
7.1. Die zeitliche Dimension der Reizverarbeitung
Obwohl biologisches Leben durchdrungen ist von zeitlich gesteuerten Prozessen,
fehlt dennoch ein auf diese Vorgänge spezialisiertes Wahrnehmungssystem.
Zeit kann als solche selbst nicht unmittelbar empfunden werden, »wir können
sie weder sehen, hören, berühren, riechen, schmecken« (Epstein 1998, S. 350).
Das Phänomen Zeit bedarf einer innerlichen, auf das Gedächtnis gestützten
Rekonstruktion (vgl. Abschnitt 6.1). Anders ausgedrückt könnte formuliert werden,
dass Zeit real gar nicht vorhanden ist bzw. in der menschlichen Verarbeitung keine
›sichtbaren‹ Spuren hinterlässt. Dies ist jedoch nur teilweise richtig. Denn alle
Sinnesmodalitäten, über die der Mensch verfügt, sind durch eine zeitliche Komponente
gekennzeichnet.