6. Zur Psychologie der Zeitwahrnehmung
Rhythmus ist ein essentieller Bestandteil von Musik. Folgerichtig beansprucht die Arbeit
an Rhythmen einen festen Platz in der musikpädagogischen Arbeit. Nicht immer
gestaltet sich diese Arbeit jedoch einfach und reibungslos. Im Gegensatz zum
Benennen von falschen Tonhöhen sind zeitliche Dauern schwieriger rückzumelden.
Korrekturversuche wie ›etwas zu kurz‹ oder ›etwas zu lang‹ illustrieren eine gewisse
Hilflosigkeit auf Seiten der Unterrichtenden. Um diese Hilflosigkeit in fundierte
musikpädagogische Konzepte umzuwandeln, soll das vorliegende Kapitel dazu beitragen,
das Wesen von Zeitverarbeitung grundlegend zu verstehen. Wie sich zeigen wird, müssen
dabei vielfältige Aspekte bedacht werden, die noch dazu miteinander in Wechselwirkung
stehen.
Die Frage, wie die Sinne des Menschen Zeit überhaupt verarbeiten, ist in der
Psychologie schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert thematisiert worden. In dieser
Zeit begannen eine Reihe von Wissenschaftlern mit akustischen Stimuli zu
experimentieren (vgl. Spitznagel 2000). Eine der ersten Erkenntnisse war die Tatsache,
dass eine Reihe identischer Klangereignisse in der Wahrnehmung als gegliedert
erscheinen:
Im Laufe der Zeit haben sich die Methoden der experimentellen Psychologie so
verfeinert, dass Aussagen über die Verarbeitung von minimalen Zeitdauern im
Millisekundenbereich möglich werden. Inwieweit die so gewonnen Erkenntnisse über
Verarbeitungsprozesse auf die Musikausübung anzuwenden sind, muss allerdings sorgsam
abgewogen werden. Zwar geschehen auch im Musizieren blitzschnelle Aktionen und
Reaktionen, findet ein Umgang mit minimalen Dauern statt. Andererseits sind die Reize
in der Musikausübung in der Regel komplex und von den kargen, isolierten Clicks der
Laborsituationen weit entfernt.
Ein weiterer Aspekt der psychischen Realität von Zeit und Rhythmus betrifft die
Zusammenhänge mit dem Lebensalter: für Kinder hat Zeit eine andere Bedeutung als für
Erwachsene. Denn während Erwachsene ihr subjektives Erleben im System von Uhrzeit
und Datum verankert wissen, lernen Kinder erst allmählich den Rhythmus des Tages,
den Lauf von Wochentagen oder Jahreszeiten. Dass es eine objektive, verbindlich
messbare Zeit gibt, ist erst ab einer bestimmten Entwicklungsreife