- 22 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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Josquin diesen aus, imitiert die vom Wort evozierten Bilder innerer wie äußerer Bewegung mit den Mitteln der Musik. Die kunstvollen mehrstimmigen Kompositionen der Niederländer sind nicht metrisch oder versartig gegliedert, sondern schichten verschiedene Mensuren, imitieren und fugieren und verhindern somit eine homorhythmische Textdeklamation im Sinne der antiken Theorie. Ihr Melodiefluss lässt sich nicht dem Wort oder dem Rhythmus unterordnen. Text und Rhythmus müssen aufeinander zugehen, sich einander anpassen, dieser Vorgang ermöglicht schließlich den Fortschritt der Musik späterer Jahrhunderte: die Möglichkeit der Darstellung von Bewegung, von Langsam und Schnell, Schwer und Leicht.

Besteht das Bestreben der Komponisten zunächst darin, die Textausdeutung mit den Regeln der mensuralen Praxis in Einklang zu bringen, kommt es später zu deren allmählicher Auflösung. Die außerordentlich intellektualisierte Musik des Mittelalters wandelt sich vom Spiegel göttlicher Ordnung zu einer ›menschlicheren‹ Praxis: die großen Notenwerte verschwinden im Laufe des 16. Jahrhunderts, statt der ›perfekten‹, an der christlichen Religion orientierten Dreiteilung wird die Zweiteilung häufiger, ein Beispiel für eine größere Ausrichtung auf die symmetrischen Gegebenheiten des menschlichen Körpers. Das Aufkommen immer virtuoserer Diminutionen kann als Symptom für das Erstarken der Instrumentalmusik gelten. Seidel (1998, Sp. 281f.) weist darauf hin, dass der intrinsische Wert einer Note, d. h. ihre Gewichtung, zunächst vom Text abhängig ist. Eine weitere Neuerung ist der Auftakt, der dem Mensuralsystem fremd war. Ende des 15. Jh. verbreitet sich der ›tactus‹, das regelmäßige Heben und Senken der Hand zur Markierung der Breven bzw. Semibreven als Hilfe zur Aufführung einer Komposition. Die temporale Gestaltung der Mensuralmusik findet auf der Ebene der Notenwerte statt, nicht in der Gestaltung von größeren, die Form betreffenden Einheiten wie beispielsweise den später so genannten Perioden (vgl. ebd.), Ausnahmen finden sich allerdings in der Tanzmusik. Seidel (1976, S. 63f.) trägt die Standpunkte verschiedener Theoretiker des 20. Jahrhunderts zu der Streitfrage zusammen, ob diese Musik somit überhaupt rhythmisch zu nennen sei. Dieser Exkurs ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie polarisiert, normativ und ideologisiert der Begriff des Rhythmischen ist (vgl. auch Abschnitt 3.2.5).

Hervorgehoben werden soll für diese Epoche die parallele Existenz zweier Ausprägungen: theoretisch werden die Gesetze der Antike favorisiert, diese beziehen sich jedoch auf einstimmige, deklamatorische Musik und sind für die zweite Erscheinungsweise, die damals zeitgenössische Polyfonie, im Grunde irrelevant. Erst im Aufeinander-Zugehen beider Systeme entwickelt sich die Musik stilistisch weiter. Es kommt zur (Wieder-) Entdeckung der Bedeutung von Sprachinhalt und Wortrhythmus. Es zeichnet sich in den Kompositionen der Zeit eine grundsätzliche Tendenz von der Statik zur Dynamik ab. Bedeutsam ist auch die Abwendung vom Gebot der Dreizeitigkeit, von der spirituellen Überhöhung hin zum Konkreteren, Menschlicheren. Die Zweizeitigkeit ist in der Körperlichkeit des Menschen offensichtlicher vorgegeben als die Dreizeitigkeit (auch wenn diese physiologisch durchaus nachzuweisen ist, vgl. die Abschnitte 4.1.2, 4.1.3 und 4.2). Das Abwechseln von rechts und links in der Schrittfolge oder das Auf und Ab der Hand in der Dirigierbewegung stehen für schlichtere Muster als dreizeitige Abläufe. Unabhängig von den theoretischen Bemühungen, dem komplizierten Wesen des Rhythmus


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