3.3.2. Mimesis der Tonhöhe
Aleksei Nikolaevich Leont’ev versuchte das Phänomen der Vorstellung von Tonhöhen mit
seiner allgemeinen Theorie des »motorischen Isomorphismus« zu erklären (1959, S. 146–156).
Dieser Theorie zufolge sind der motorische Apparat und die damit assoziierten motorischen
Mechanismen des Gehirns in allen funktionalen Systemen aktiv, die im Laufe eines Lebens
gebildet werden. Ihre kombinierte Aktivität stellt die Genauigkeit unserer Wahrnehmungen
sicher. Die Entwicklung des tonhöhenbezogenen Hörens steht demzufolge in direkter
Abhängigkeit zur vokalen Aktivität. Durch den Prozess der (hörbaren oder unhörbaren)
Intonation entsteht eine Verbindung zwischen dem wahrgenommenen auditiven Stimulus
und Bewegungen des Kehlkopfs, welche ihm zufolge die Tonhöhe getreu abbilden. Im
Vorstellungsprozess sind die äußeren motorischen Akte durch »interne motorische Akte«
ersetzt, die in Form von Veränderungen von Stellung und Muskeltonus mit den früheren
Aktivitäten des Subjekts in Beziehung stehen. Aleksei Nikolaevich Leont’ev deutete die
motorischen Prozesse im Stimmapparat folglich als Mechanismus des Modellierens der
Hörwahrnehmung.
Hinsichtlich der Repräsentation räumlicher Attribute durch Muskelbewegungen vertrat
bereits Rudolph Hermann Lotze einen konstruktivistischen Standpunkt. Ihm zufolge wird
räumliche Ausdehnung auf der Grundlage der Intensität physiologischer Prozesse als solche
interpretiert und im Geist/in der Vorstellung rekonstruiert (vgl. S. 328). Die Vorstellung von
Tonhöhe ist demnach abhängig vom individuellen Stimmapparat und durch diesen
begrenzt:
Leicht ist uns […] selbst die Erinnerung an die Verschiedenheit der Vocale,
schwer dagegen die deutliche Reproduction höchster und tiefster Töne, deren
Erzeugung die Kräfte unsers [sic] Stimmorgans übersteigt (Lotze 1852, S. 480f.).
Demzufolge müssten so genannte Brummer ein schlechteres Tonhöhengedächtnis aufweisen
als z. B. ausgebildete Sänger mit fünf und mehr Oktaven Stimmumfang. Lotzes Annahme
der Beschränkung der Vorstellung von Tonhöhen durch den eigenen Stimmumfang lässt sich
nicht eindeutig be- oder widerlegen. Prinzipiell erscheint es durchaus möglich und
wahrscheinlich, sich alle Tonhöhen vorzustellen zu können, die man zuvor gehört hat (vgl.
auch Teplov 1966, S. 315). Die Tonhöhenvorstellung wäre demnach nur durch die Grenzen
der Hörwahrnehmung beschränkt. Bei strenger Auslegung von Lotzes Theorie müsste sich
ein geringer Stimmumfang bereits negativ auf die auditive Wahrnehmung von Tonhöhen,
die diesen überschreiten, auswirken. Dies widerspricht menschlicher Erfahrung.
Stattdessen scheint sich der Kehlkopf sogar bei der Vorstellung von Tönen, die
außerhalb des individuellen Stimmumfangs liegen, stark nach oben (respektive unten)
zu bewegen. Sänger lernen in ihrer Ausbildung solchen Tendenzen entgegen zu
wirken.
Für R. H. Lotzes Ausführungen spricht wiederum, dass sich nach eigener subjektiver
Beobachtung z. B. viele Musikstudenten schwer tun, in Gehörbildungskursen Intervalle zu
bestimmen, deren Tonhöhen ihre jeweilige Stimmlage übersteigen. Der Hinweis die
Tonhöhen in eine »singbare« Oktavlage zu transponieren, ist allgemein verbreitet. Er findet
sich auch in Lehrwerken zur Gehörbildung (vgl. z. B. Kühn 1997, S. 20; Kaiser 1999, S. 48).
Das Nachsingen in einer bequemen Oktavlage
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