können wir […]
in Gedanken nicht in schnellerem Tempo durchlaufen, als in welchem wir im Stande sein
würden, sie zu singen« (S. 480).
Dagegen vertrat B. M. Teplov (1966) in Übereinstimmung mit Carl Stumpf und Otto
Abraham den Standpunkt, dass man sich hochvirtuose Passagen, die man unmöglich
selbst spielen oder singen kann, dennoch mit vollkommener Klarheit vorstellen
könne.
Andrea Halpern (1988b) ließ Musiker und musikalische Laien vertraute
Lieder (z. B. »Oh when the saints« oder »Twinkle twinkle little
star«9
Melodie von »Morgen kommt der Weihnachtsmann«
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) in
unterschiedlichen Tempi vorstellen, die sie auf einem Metronom einstellen konnten. Halpern
wollte – analog zu ihrem oben beschriebenen Tonhöhenversuch – die obere und untere Grenze
der Tempovorstellung für jedes Lied bestimmen, ab der die Melodievorstellung zu schwierig oder
unmöglich wird. Die schnellsten und langsamsten Tempoangaben betrugen im Mittelwert 164 bzw.
65 Bpm.10
Beats per minute = metrische Grundschläge pro Minute
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Halperns Ergebnissen aus dem Tonhöhenversuch, geben die
Metronomeinstellungen kein absolutes Limit der Tempovorstellung wieder, sondern wurden
im Zusammenhang mit dem jeweiligen Lied – vielleicht im Sinne eines ästhetischen Urteils –
vorgenommen. Möglicherweise kommen die relativ moderaten Tempoangaben dadurch
zustande, dass sich die Probanden die Lieder mit Text vorstellen sollten. Aus der Studie
geht allerdings auch nicht eindeutig hervor, ob ein Schlag des Metronoms einem oder
mehreren vorgestellten Melodietönen entspricht. Es erscheint zudem durchaus möglich, sich
zumindest die Melodien dieser Lieder (ohne Text) wesentlich schneller bzw. langsamer
vorzustellen oder diese sogar zu singen. Extrem schnelle Tonfolgen können schließlich z. B.
durch Glissandi oder mit Flatterzunge stimmlich nachgeahmt werden. T. L. Bolton
(1894) zeigte, dass das subjektive Rhythmusgefühl bei der auditiven Wahrnehmung
von Melodien erst zusammenbricht, wenn die zeitlichen Intervalle zwischen zwei
Tönen kürzer als 115 msec oder länger als 1,58 sec sind. Nach Paul Fraisse (1982)
wird ab einem zeitlichen Abstand von zwei Sekunden zwischen zwei Tönen keine
zusammenhängende Reihe mehr wahrgenommen. Rechnet man diese Werte in Töne pro
Minute (hier mit »TpM« abgekürzt) um, so erhält man eine Obergrenze der auditiven
Tempowahrnehmung von ca. 522 TpM und eine Untergrenze von 38 bzw. 30 TpM. Diese
Obergrenze entspricht Sechzehntelnoten bei einer Metronomeinstellung von ca. 131 Bpm.
Vielleicht hatte Rudolph Hermann Lotze mit seiner auf dieser Seite zitierten Aussage
Recht. Eine differenzierte Vorstellung einer Tonfolge in Sechzehnteln in diesem
Tempo dürfte ebenso wie deren kontrollierte stimmliche Nachahmung äußerst schwer
fallen.
Donald Olding Hebb (1949; 1966; 1968) sah Imagination als eine Form des prozeduralen
Wissens im Gedächtnis an. Er postulierte, dass motorische Komponenten sowohl in der
Perzeption als auch in der Vorstellung eine wesentliche Rolle spielen (1949, S. 34–37). Ihm
zufolge könnten die an der Wahrnehmung und Vorstellung beteiligten motorischen Prozesse
die Funktion der sequentiellen Organisation zeitlicher Muster erfüllen. Auch Ivan
Mikhailovich Sechenov (1965) hatte angenommen, dass Bewegungen neben der
Verbesserung der Wahrnehmungsbedingungen dazu dienen, den kontinuierlichen Strom von
Sinnesempfindungen in eine Reihe separater Wahrnehmungsakte zu unterteilen und eine
Verbindung zwischen diesen zu
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